Von 27 verlorenen Jahren – so beginnt dieser Blog. Natürlich klingt das poetisch, aber gleichzeitig ist es eine ziemlich krasse Aussage. Fühlt es sich also für mich wirklich so an, als hätte ich mein ganzes, bisheriges Leben verloren? Als wären das vergebliche Jahre gewesen?
Ja und nein. Ich habe bisher ein super glückliches Leben geführt. Wahrscheinlich eins der besten, die man in meiner Situation hätte führen können.
Ich habe eine unfassbar großartige, liebevolle Familie, die ihr wahrscheinlich noch irgendwann kennenlernen werdet. Es war mir möglich, inklusiv aufzuwachsen – in einer Zeit, in der das noch ganz viel war, aber nicht selbstverständlich. Ich konnte meinen akademischen Weg gehen und bin durchaus rumgekommen. Es sind wunderbare Menschen um mich herum und ich kann einer Arbeit nachgehen, die mich mit Leidenschaft erfüllt.
All das, obwohl man meinen direkt nach der Diagnose mit spinaler Muskelatrophie baldigen Tod vorher gesagt hatte.
Also nein, keines dieser Jahre war vergeblich. Sie waren voller Licht und Schatten und ich würde keines davon vergessen wollen.
Aber es gibt eine Sache, die mich immer schon begleitet hat: Das Bewusstsein, das ich nicht lange leben würde. Mit jedem Arztbesuch. Mit jedem Termin, der mit meiner Erkrankung zusammenhing, wurde dieses Wissen in mir zementiert.
Also habe ich sobald ich sprechen konnte, meine Beerdigung geplant. Habe mich viel damit konfrontiert, dass es bald vorbei sein könnte. Jeder Husten, jede Erschöpfung fühlte sich für mich an, als würde ich näher an mein Grab rücken.
Das war für mich kein erschreckender, schrecklicher Gedanke. Auch wenn man meinen könnte, dass es das gerade für ein Kind sein könnte. Es war eine schlichte Tatsache. So gewöhnlich und undiskutabel, wie dass man sich verbrennt, wenn man auf eine heiße Herdplatte fasst.
Eine Konsequenz aber hatte es. Ich habe ohne Zukunft gelebt. Wieso hätte ich auch etwas planen sollen, das vermutlich ohnehin nie eintreten würde? Jeder Moment war irgendwie ein letztes Mal und ich sog diese Momente auf. Viele Menschen wünschen sich das. Dieses Leben in der Gegenwart.
Und natürlich war das schön. Es hat unglaublich frei gemacht. Ich habe nicht über eine Karriere oder Konsequenzen nachgedacht. Ich konnte alles, was mir geschah, mit vollen Händen genießen, ohne dass ich groß darüber grübeln musste, wie ich in 5 Jahren darüber denken musste.
Meine Studien konnte ich wählen, ohne darüber nachzudenken, ob sie mir nützlich sein konnten. Meine Aufmerksamkeit durfte ich den Dingen schenken, die mir gerade etwas gaben. Ganz gleich, ob es Sinn oder Schaden bringen würde.
Ich hatte quasi das Gefühl von „Carpe Diem“ inhaliert und mich ihm ganz verschrieben. Vor allem konnte ich all das tun, ohne bewusst darüber nachzudenken.
Mit der Einnahme und dem Anschlagen des Risdiplams aber hat sich das geändert. Ich weiß auf einmal, dass ich sehr, sehr viele Jahre erleben werde. Und das ist auch ein großartiges Gefühl.
Nur bin ich jetzt gleichzeitig in einer Art Bredoullie. Ich habe jetzt auf einmal alle Gedanken, die ich vorher nie haben musste. Ist meine Studienwahl richtig gewesen? Habe ich die richtigen Wege gewählt? Möchte ich eigentlich dieses Leben leben, das ich mir aufgebaut habe? Alle Zukunftsängste und Planungen, die man in seiner Jugend und dem jungen Erwachsenenalter so hat, prasseln auf mich ein.
Jetzt versuche ich sie zu ordnen und herauszufinden, wie es denn eigentlich ist, nicht mit einem Damoklesschwert über dem Kopf zu leben. Aber das ist ein Prozess…
Deswegen ist dieses erste Leben, das ich gehabt habe, im Augenblick für mich verloren. Eben nicht verschwunden oder unwichtig. Genauso wenig wie eine Socke, die sich in der Waschmaschine versteckt hat. Aber manchmal muss man eben herausfinden, wie alles von statten gegangen ist.
Das ist eine schöne Aufgabe, aber manchmal auch anstrengend. In jedem Fall findet man aber am Ende entweder eine Socke oder etwas anderes hübsches. Und das ist es doch wiederum wert.
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