Denn sie wissen nicht, was sie tun…

Bild einer Hand, die eine weitere Hand am Handgelenk umfasst

Wenn ich mit meinen Eltern zusammensitze, dann kommt früher oder später das Thema auf eine Sache: Die Vojta Therapie, die mich und sie eine ganze Weile lang begleitet hat.

Dann geht es in unseren Gesprächen sehr viel um Schuld und Schmerz – und um die hilflose Hoffnung, es würde vieles besser machen. Kein Thema, das man gerne bespricht, und definitiv hätten wir sehr viel lieber andere Erinnerungen, die wir teilen würden. Aber dennoch oder gerade deswegen ist es mir wichtig, darüber zu sprechen. Weil nur dadurch Eltern und Betroffene eine Chance haben, sich umfassend zu informieren.

Deshalb möchte ich hier ein bisschen über meine Erfahrungen und die Auswirkungen auf mein Leben sprechen. Das sind natürlich recht subjektive Eindrücke, aber manchmal sind auch die gut, um ein Gesamtbild zu finden.

Trotzdem sind natürlich erst einmal die Fakten wichtig. Therapie nach Vojta ist eine Form der Physiotherapie. Dabei wird, ganz grob erklärt, Druck auf bestimmte Körperregionen ausgeübt, um Reflexe auszulösen. Das soll die Aktivierung des zentralen Nervensystems ermöglichen und dafür sorgen, dass man Bewegungen lernt, die der Körper sonst eher nicht so gut reproduzieren kann. Am besten klappt das laut Prof. Vojta, wenn man damit so früh wie möglich anfängt.
Inzwischen ist auch bekannt, dass gerade Kinder, die noch nicht sprechen können, während diesen Therapiesitzungen schreien. Die Internationale Vojta Gesellschaft e. V. schreibt dazu:

 Dies führt bei Eltern verständlicherweise zu Irritationen und lässt sie vermuten, dass sie ihrem Kind „weh tun“. Schreien ist in diesem Lebensalter jedoch ein wichtiges und adäquates Ausdrucksmittel der kleinen Patienten, die so auf ungewohnte Aktivierung reagieren. In der Regel ist nach einer kurzen Eingewöhnungszeit das Schreien nicht mehr so intensiv und in den Übungspausen sowie nach der Therapie beruhigen sich die Säuglinge direkt.

https://www.vojta.com/de/vojta-prinzip/vojta-therapie

Und ich kenne superviele Betroffene, denen Vojta wohl sehr hilft und die es auch im Erwachsenenalter nicht missen wollen.

Ich selbst hatte von meiner Diagnose an bis ins 12. Lebensjahr mal mehr, mal weniger Therapiestunden. Gerade in der frühen Kindheit aber sehr intensiv, denn meine Eltern waren dazu angehalten, auch täglich mit mir zu Hause zu üben.

Wie sah das also aus? Man hat meinen Körper in Positionen gebracht und versucht, durch Drücken verschiedene reflexartige Bewegungen hervorzurufen. Ob ich mich dadurch bewegt habe, kann ich gar nicht mehr genau sagen, denn bei spinaler Muskelatrophie ist das mit den Reflexen so eine Sache.

Woran ich mich also erinnern kann, ist es in Körperhaltungen, zum Beispiel den Vierfüßlerstand gebracht zu werden, die für mich ohnehin schon kaum auszuhalten sind, da ich sie wortwörtlich nicht „halten“ kann. Während also mein Kopf nach unten hängt, die Arme wegknicken und mein Körpergewicht auf meinen Knien ruht, die im Alltag kein Gewicht kennen, drückt die Therapeutin in meine Oberschenkel und Seiten. Weil meine Muskeln kaum ausgeprägt sind, drückt sie auf meine Knochen.
Zum Zeitpunkt dieser speziellen Erinnerung schaltet mein Kopf bei Schmerzen schon einfach ab. Ob das alles also furchtbar wehtat oder nur unangenehm war, weiß ich nicht mehr. Ich weiß, dass ich stumm geweint habe und wusste, dass mein Protest zwecklos war. Nach dieser Therapiestunde habe ich absurderweise darauf hingewiesen, dass mein Geburtstag war – und einen Duschschaum geschenkt bekommen. Ein kleiner Trost für die Demütigung, die ich damals verspürte.

Andere Erinnerungen drehen sich um meine Beine. Das sind die Erinnerungen, die mich bis heute verfolgen und bei jeder Berührung meiner Unterschenkel dazu führen, dass mir kalter Schweiß ausbricht und ich sehr viel Kraft brauche, um nicht zu erstarren.

Da ist viel Schmerz in meiner Erinnerung. Meiner, aber auch der in den Gesichtern meiner Eltern. Es war ja laut den Therapeut*Innen wichtig, dass diese Übungen täglich gemacht werden. Alles andere wäre gewissermaßen Vernachlässigung und würde mich noch behinderter machen.
Also taten sie es. Brachten ihre Tochter in Positionen, die sie freiwillig nie eingenommen hätte, und drückten in ihr Fleisch. Das Kind schrie und weinte, aber man hatte gesagt, das wäre etwas, das sie übergehen müssten. Das es besser so wäre.

Heute weiß ich, dass ihnen jedes Mal das Herz dabei brach. Und dass sie genauso gelitten haben wie ich. – Und dass die Wunden dieser Therapieform immer noch tief sitzen. Letztendlich ging es in dieser Zeit jedes Mal darum, wie weit man gehen würde, um das Leben des eigenen Kindes zu retten. Denn unterhalb dieser Maxime wurde in medizinischen Gesprächen über mich und meine Erkrankung damals nicht verhandelt.

Irgendwann aber war es zu viel. Da konnten meine Eltern nicht mehr und die Therapie wurde abgebrochen. Geschrien habe ich da schon lange nicht mehr.
Ich glaube, wir alle sind wahnsinnig dankbar dafür, dass sie den Mut dazu aufgebracht haben. Gerade weil hier so viel Druck von allen Seiten aufgebaut worden war. Wer wusste schon, zu welchem Schicksal sie mich damit verdammen würden? Immerhin kommen nur die Harten in den Garten.

Ich kann auch nicht sagen, wo ich jetzt stünde, wenn wir weiter gemacht hätten. Vielleicht hätte ich einige Fähigkeiten nicht verloren. Oder aber viel mehr. So genau weiß man das bei dieser Erkrankung immer noch nicht.
Aber der Versuchung, eine kleine Bestandsaufnahme zu machen, kann ich doch nicht widerstehen:

Ich kann bis heute nicht unterscheiden, ob ich schlimme Schmerzen fühle oder etwas unangenehm ist. Im Zweifel entscheide ich mich dafür, es auszuhalten. Das habe ich ja gelernt.
Mit teilweise fatalen Folgen, wie bis aufs Fleisch verbrannte Fußsohlen, weil ich gelernt habe, dass meine Schmerzreize einfach eh nicht so richtig zählen.

Niemand kann meine Beine anfassen, ohne dass ich in Panik ausbreche. Dass das so ist, kann ich aber in diesen Momenten nicht äußern.

Nach dem Therapieabbruch hatte ich über 15 Jahre keine Physiotherapie mehr. Allein der Gedanke daran machte mir unfassbare Angst. Als ich wegen dem Risdiplam, wieder in Therapie musste, hätte ich das Medikament am liebsten verweigert und hatte anfangs in jeder Stunde panische Angst. Manchmal kostet es mich auch heute noch extrem viel Kraft, in die Stunden zu gehen, auch wenn mein Therapeut mir mit ganz viel Geduld dabei hilft, andere Seiten von Therapie, – vor allem ganz gewöhnliche Krankengymnastik, zu erkunden und mich nicht berührt, ohne, dass ich es erlaubt habe.

Es erscheint mir beinahe unanständig, „Nein“ zu sagen. Überhaupt zu lernen, dass mein Körper mir gehört und niemand Dinge damit tun darf, die ich nicht möchte, hat ewig gedauert. Das bei anderen zu akzeptieren ist für mich gar kein Problem, aber es fühlt sich immer an, als gelte dieses Prinzip von „Nein heißt Nein“ für mich nicht.

Dass mein Körper okay und keine dauerhafte Baustelle à la BER ist, fällt mir bis heute schwer zu verstehen. Immerhin war er ja jahrelang nur der defizitäre Feind, den man nur genug quälen musste, damit alles gut wird.

Diese Dinge sind nun einmal so und ich habe das große Glück, dass ich mich inzwischen so gut und sicher fühle, an ihnen zu arbeiten – und vor allem, sie in Worte zu fassen.
Manchmal würde ich mir wünschen, dass ich wütend darüber sein könnte, was man mir und meiner Familie angetan hat. Manchmal wäre ich auch gerne auf meine Eltern wütend. Oder auf die Therapeutin. Aber das Schlimme ist ja, dass jeder in dieser Geschichte versucht hat, das Beste zu tun. Und das keiner gewusst hat, was er oder sie tut.

Da kann ich nun verzweifelt dasitzen oder die Stille einer Nacht fragen „Warum hat mir denn keiner geholfen?“. Am Ende wird die Antwort sein, dass wir alle einander nur helfen wollten.
Deswegen ist es mir so wichtig, über meine Erfahrungen zu sprechen, auch wenn mir das nicht leicht fällt und auch wenn sie sehr drastisch sind.

Dabei geht es mir nicht darum, irgendjemandem eine Therapiemethode wegzunehmen, die wunderbar bei dieser Person funktioniert. Auch möchte ich auf keinen Fall alle Therapeut*Innen, die Vojta praktizieren, verteufeln. Ich glaube nicht, dass jedes Kind erlebt, was ich erlebt habe. Ich glaube auch, dass es Erkrankungen gibt, bei denen diese Methode absolut gewinnbringend sein kann.

Aber es gibt eben auch Fälle wie meinen, in denen etwas nicht passt. In denen das Betroffene, Familie und wahrscheinlich auch die Therapeutin wissen. In denen aber die Furcht vor Abbruch oder Veränderung so groß ist, dass man diesen Schritt nicht wagt.

Und in diesen Fällen würde ich mir wünschen, dass man mehr auf die Gefühle und Signale der Familien und Betroffenen hört. Dass nicht noch Druck aufgebaut wird, indem vor schlimmen Folgen gewarnt wird, wenn man etwas nicht mit seinem Kind machen möchte. Dass es auch einfach okay ist, zu sagen, diese eine oder andere Methode ist nichts für uns und wir würden gern etwas anderes ausprobieren – oder auch gar nichts.

Denn am Ende geht es einfach nur darum, die paar leuchtenden Jahre, die man auf diesem Planeten hat, in irgendeiner Form zu genießen. Es geht darum, als Familie miteinander zu arbeiten und sich nicht dazu gezwungen zu sehen, sich gegenseitig wehzutun. Und es geht darum, diesen einen Körper halbwegs gut zu behandeln.
Weil man eben nur einen davon hat und weil man im besten Falle noch eine ganze Weile damit verbringt.

Eine Antwort zu „Denn sie wissen nicht, was sie tun…”.

  1. Liebe Vroni, ich hab gerade noch einmal deine Geschichte über Voita gelesen und wieder hat sie mich tief berührt. Danke, für die Einblicke in Deine Seele.

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