Stolz?!

Disability Pride Flagge mit Zickzackblitz in den Farben blau, gelb, weiß, rot und grün vor schwarzem Grund

Ich vermute, dass es nicht so unfassbar viele sind, die bereits irgendetwas vom #disabilitypride gehört oder gelesen haben. Aber der Juli steht zumindest für mich ganz im Zeichen des Stolzes auf meine Identität als Mensch mit Behinderung.
Wie man auf etwas stolz sein kann, das letztendlich nur ein Begriff dafür ist, in irgendeiner Form bestimmte Dinge nicht zu können? – Naja, das ist tatsächlich gar keine so banale Frage. Um ehrlich zu sein, stelle ich mir genau diese Frage jedes Jahr im Juli aufs Neue.

Aber verstehe ich diese in den 70er-Jahren in den USA entstandene Bewegung, je älter ich werde immer mehr. Und dabei geht es nicht darum, „Hurra, ich bin behindert“ zu schreien. Für mich geht es beim stolz auf meine Behinderung zu sein, viel eher darum, dass ich auch nicht mehr das Gefühl haben möchte, einen Körper wie den meinen zu haben, sei das Schlimmste, was mir je hätte passieren können.

Hierzu eine kleine Zeitreise: In den 90ern, recht bald nach meiner Diagnose und meiner Versorgung mit einem Rollstuhl, begegnet meinen Eltern und mir eine ältere Dame. Diese Dame kennt meine Familie schon eine ganze Weile. Nun aber sieht sie eben diese Familie zum ersten Mal mit einem Kind im Rollstuhl.
Die Reaktion? – Eine Beileidsbekundung à la „Ihr Armen. Und das arme Kind. Kann nie laufen, nie schwimmen, nie klettern.“
An sich hat sie da völlig recht. Ich werde all diese Dinge nie können. Genau wie ganz viele andere Sachen. Ich bin durch meine Behinderung auch immer noch Teil einer Minderheit, die in Deutschland gerne vergessen oder sehr sträflich behandelt wird. Durch meine Behinderung habe ich ab und an sogar richtige Schmerzen. Das ist alles wahr und es gibt wirklich Tage, da würde ich das Schicksal gern schütteln und anschreien, weil es mir die „falschen“ Gene zugeteilt hat.

Aber bin ich jetzt deswegen arm? Schwierige Frage. Eigentlich ja nicht. Sicher, ich würde wahnsinnig viel dafür geben, dass ich einige der Hürden, die mir im Alltag begegnen, sich in Luft auflösen. Nur würde ich eben sehr, sehr dreist behaupten, dass meine kaputten Vorderhornzellen jetzt eher weniger das Problem sind.
Diese unartigen Zellen stellen mir keine Treppen in den Weg, lassen mich auch keine gefühlt hundertseitigen Formulare ausfüllen und sie erzählen mir auch nicht, dass mein Leben eine Belastung für den Steuerzahler sei. Das ist eher eine Gesellschaft, die Menschen, die sich von dem unterscheiden, was Wissenschaftler vor Jahrzehnten als Standard definiert haben, einfach nicht mitdenkt.
Manchmal, da frage ich mich, wie mein Leben wohl wäre, wenn dieser Punkt wegfallen würde. Also wenn meine Anwesenheit einfach eine absolute Selbstverständlichkeit wäre. Dann könnte ich immer noch keinen Triathlon absolvieren und Schmerzen hätte ich auch noch, aber es würde einen großen Teil der Dinge mit denen ich hadere, wegnehmen.

Und diese Dinge können wir gemeinsam sehr, sehr viel leichter ändern als meine genetische Ausgangslage. Also nein, meine Behinderung ist einfach nicht das Grundproblem. Sie ist nichts, wofür ich, meine Eltern oder irgendjemand sich schämen muss. Nichts, worüber mir jemand mein Beileid aussprechen muss. Sie ist eine Tatsache. Eben eine Eigenschaft neben ganz vielen anderen Eigenschaften. #disabilitypride ist für mich also ein bisschen wie #bodypositivity.
An sich geht es gar nicht so sehr darum, sich zu 100% nur großartig zu finden. Es geht darum, in einen Spiegel sehen zu können und sich zu denken: „Hey, das bin ich. Und ich bin okay.“
Dafür braucht man aber nach so vielen negativen Erfahrungen ein paar positive. Und deswegen kann man sich zumindest einmal im Jahr darum bemühen, stolz auf seine Behinderung zu sein oder eben einmal nach Dingen zu suchen, die auch wertvoll daran sind.

Hier also eine Aufzählung der Dinge, die mir meine Behinderung gebracht hat:
Ich bin ein Kommunikationsmonster. Wahrscheinlich gibt es kaum nicht-behinderte Menschen, die sich selbst und jeden Schritt in ihrem Leben so reflektiert und präzise in Worte fassen können.
Was ich in meinem Leben an unterschiedlichen Menschen kennenlernen konnte, ist einfach fantastisch. Daraus ist ein super großer Erfahrungsschatz über menschliches Verhalten entstanden, der auch noch ständig wachsen darf.
Meine Schmerztoleranzgrenze ist der absolute Wahnsinn. – Nicht unbedingt eine große Errungenschaft, aber hey, was echt einige Menschen in die Knie oder eine Ohnmacht zwingen würde, ist für mich an sich noch irgendwie ertragbar.
Eine Frage zu Steuern, Verwaltungskram, Krankenkassen, Personalführung oder auch einfach nur zur Wirkung von irgendwelchen Medikamenten? Wer sich oft auf sich verlassen muss, der lernt sich a) Wissen anzueignen und b) immer wieder auf dieses Wissen zurückzugreifen. Und in 27 Jahren gibt es da so einiges an Wissen und Fähigkeiten, die man sich aneignen kann.
Ein Vierteljahrhundert einen Kasten zu steuern, der knapp 120 kg ohne mich wiegt und eher so mittel dezent ist, hat mein räumliches Denken so geschult, dass es kein übrig gebliebenes Essen gibt, das bei mir ohne die perfekte Tupperdose auskommen kann.

Und ja, ich weiß, so superernst ist diese Liste nicht zu nehmen, aber es sind Fähigkeiten und Eigenschaften, die ich mir angeeignet habe. Die es mir ermöglichen, da zu stehen, wo ich jetzt stehe. Die ich haben muss, um zu überleben.
Ich wäre natürlich froh, wenn sie nicht nötig wären. Aber sie machen mich eben auf irgendeine Weise aus. Sind genauso Teil meiner Persönlichkeit geworden wie dass ich gerne Rot trage, weil es mir eben steht und es nicht jeder tragen kann.

Ich finde, da zu stehen, wo ich jetzt bin, hat Stolz verdient. Weil es ist bei Weitem nicht einfach war. Weil ich mich trotz des Körpers, den ich nun einmal habe, und trotz all der kleinen und großen Hindernisse genau hier bin. Weil ich von mir sagen kann, dass ich mich irgendwie okay finde, obwohl das so vielen Menschen auf diesem Planeten richtig schwerfällt. Und weil ich in den Momenten, in denen ich mich auch nicht so okay fand, trotzdem immer einen Weg gefunden habe, weiter zu machen.

Also nein, ich bin nicht arm. Ich bin ich. Ich bin behindert. Und ich bin stolz.

Ach, und was meine Antwort auf die Feststellungen der älteren Dame war? „Stimmt, aber reden kann ich.“

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