Wo meine Seele atmet

Bild einer Hummel auf einer Diestel, im Hintergrund Kiesstrand und ein See.

Ich glaube, jeder Mensch hat einen Ort, an dem er sich gut fühlt. Ein Ort, an dem sich Freiheit und Geborgenheit die Hand geben. Eine Art Seelenort.
Meiner ist natürlich meine Wohnung – aber eben auch der See in meiner Nähe: Der Riemer See.

Vor Jahren war ich dort, um ihn bei der Bundesgartenschau 2005 zu bestaunen. Und inzwischen lebe ich nur ein paar Minuten von dort entfernt. Er hat mich, seit er künstlich angelegt wurde, immer begleitet, und als ich relativ ungeplant in die Münchner Messestadt gezogen bin, war mir nicht klar, wie viel dieser Ort nur drei Jahre später mir bedeuten würde.

Aber von Anfang an, weil viele von euch diesen See wohl nie gesehen haben und ihn wahrscheinlich auch nicht so einfach sehen können. Der See ist mit 7,7 Hektar relativ groß für einen See in der Stadt und liegt inmitten eines Parks, der vor allem von Wiesen geprägt ist.
Es gibt dort einen Badestrand, eine Promenade und eine Brücke vom moderner gestalteten bis hinüber zum eher naturnahen Ufer. An einem Kiosk kann man ab und an Eis kaufen und die Karpfen und Haubentaucher leben in stiller Eintracht mit den Besuchern des Sees.
Nachdem dieser Park und der See vom Landschaftsarchitekten Gilles Vexlard vor nicht einmal 20 Jahren konzipiert wurden, sind beide überraschend barrierefrei.

Selbst mit meinem Elektrorollstuhl komme ich direkt ans Wasser – wäre nicht die Elektrik, könnte ich sogar hineinfahren. Tatsächlich ein Luxus, den ich noch nie in meinem Leben genießen konnte. Selbst an den paar Stränden, die ich bisher gesehen habe, ging das nicht.

Es ist nicht so, dass ich die größte Wasserratte aller Zeiten bin, aber manchmal tut es einfach wahnsinnig gut, die Elemente so dicht an mir zu spüren. Wenn die eigenen Füße eigentlich nie den Boden berühren, ist es gar nicht so einfach eine Verbundenheit mit der Welt zu fühlen.
Auch allein schon durch die wildere Seite des Ufers streifen zu können ohne mir den Rücken verstauchen zu müssen, bedeutet mir unglaublich viel.
Obwohl ich auf dem Land aufgewachsen bin, konnte ich die Natur noch nie so direkt und eigenständig wahrnehmen, wie um diesen See herum, der vom Messegelände und Industriebauten eingekesselt ist.

Das an sich wäre schon eine grandiose Erfahrung, – denn glaubt mir, wenn man auf feste und halbwegs ebene Wege beschränkt ist, ist es allein schon spektakulär eine Uferböschung entlangzugehen und Blumen beim Blühen zu beobachten.

Was mir aber jedes Mal aufs Neue den Atem raubt, ist das Gefühl unerhörter Freiheit, die mich begleitet, wenn ich all diese Wege um den See alleine bewältigen kann.

Wahrscheinlich fällt das Menschen, für die ein etwas schräger Bordstein keine Schmerzen und ein Trampelpfad keine unüberwindbare Barriere darstellt, nicht wirklich auf. Aber alleine im Elektrorollstuhl unterwegs zu sein, kann bedeuten, recht schnell wieder umdrehen zu müssen oder stecken zu bleiben, wenn nicht sogar umzukippen. Das ist natürlich keine gute Basis, um zu entspannen. Deshalb werde ich oft von meinen Assistent*Innen begleitet. Eigentlich fast immer.

Es gibt bestimmt Menschen, die ausblenden können, dass sie begleitet werden, aber mir fällt das wahnsinnig schwer. Ich spreche dann doch lieber mit meiner Begleitung, als mich in meinen Gedanken zu verlieren. Natürlich ist das wunderschön. Es ist toll, immer jemanden zum Reden zu haben. Aber ich habe das 24 Stunden. Jeden Tag. Wirklich für mich zu sein, ohne jemanden in Rufweite zu haben, das passiert eigentlich fast nie. Ich bin auch dankbar dafür, gar keine Frage, aber ein paar Minuten einfach nicht gesehen und gehört zu werden – und einfach nur mich und die Welt um mich herum zu spüren, das ist der wahre Luxus für mich.

Eine ganze Weile, also in den sieben Jahren, als ich zum Studium in der Innenstadt gelebt habe, hatte ich das gar nicht. Hier am Riemer See gibt es jetzt aber endlich Wege, die ich wirklich allein und ohne ständige Schreckensszenarien gehen kann. Sogar mehrere unterschiedliche. Da kann ich mich einfach ein paar Minuten fallen lassen. Ich kann atmen und wenn ich nicht während der Badezeiten dort hingehe, auch einfach nur einsam aufs Wasser sehen.

Und ja, oft sind die Ufer von Müll übersäht, oft ist es laut und der Dampf von Wasserpfeifen mischt sich mit dem Geschrei übermütiger Jugendlicher. Ich würde mir auch wünschen, dass zumindest schönere Graffiti an den Betonmauern des Kais prangen würden. Das Gras könnte grüner und der See klarer sein. Er könnte nur mir gehören.
Aber er ist der Ort, an dem ich die besten Ideen und schönsten Gedanken hatte. Hier frühstücke ich, wenn es draußen wärmer und das Wasser für die Badegäste noch zu kalt ist. Hier träume ich bei Sonnenuntergang, wenn der Himmel orange und der See leuchtend rot glühen, von all den Wegen in meinem Leben, die mir noch offen stehen.

Natürlich bin ich genervt, wenn so viele Leute mit mir dort sind, dass ich mich zwischen Beinen durchschlängeln muss.
Ich hasse es, wenn ich unter einer Glocke von Zigarettenrauch versuchen muss, keinen Ball an den Kopf zu kriegen, weil gerade die geteerten Wege gern spontan zum Fußballfeld umfunktioniert werden.
Und guter Gott, was würde ich mir mehr Bäume dort wünschen, damit wir uns dort im Sommer nicht kollektiv in Hummer verwandeln müssten.

Aber all das ist in Ordnung. Ich brauche keinen absolut pittoresken Ort, an dem nur die eleganteste Musik ganz dezent im Wind mitschwingt. Weder ich noch mein Leben haben diese Bilderbuchromantik gepachtet.

Da darf das Gras auch gern einmal mehr trotzig als fluffig aussehen und die Krähen den Müll wieder aus den Eimern zerren. Dieser See, auf dem Gelände eines ehemaligen Flughafens gebaut, bringt mein Herz zum Schwingen. Er macht mich in seiner schlichten, trotzigen Schönheit und dem Versprechen von Freiheit so unfassbar glücklich, dass ich ihn gegen alles Geld der Welt nicht eintauschen wollen würde.

Denn es ist mein See. Mein Seelenort.

3 Antworten zu „Wo meine Seele atmet”.

  1. So schön, wenn ich mit dir diesen Seelenort erleben darf 😗

    Gefällt 1 Person

    1. Umso schöner, wenn ich ganz dreist von dein tolles Bild benutzen darf ❤

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  2. Wunderschön geschrieben☀️❤

    Gefällt 1 Person

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