Jetzt war ich eine ganze Weile still. Natürlich hatte das ganz praktische Gründe. Ich habe meine Arbeitsstelle gewechselt und hatte privat einen recht vollen Terminkalender.
Aber ich wäre nicht ganz ehrlich, wenn ich mein Schweigen nur darauf zurückführen würde.
Mit dem beginnenden Herbst begannen nicht nur die Stürme zu toben, sondern auch das Covid 19 Virus. – Eigentlich wollte ich mich hier nie dazu äußern. Mir ist klar, dass es ein kontroverses Thema ist, aber ich werde hier auch niemandem vorschreiben, wie und was zu tun ist. Was ich will, ist von meiner Situation zu erzählen.
Ich glaube, ich habe das schon einmal angedeutet, aber meine Lunge ist wegen meiner Erkrankung ziemlich klein gequetscht und mir fehlt die Kraft zum Husten. Sogar eine Grippe birgt immer die Gefahr, sie nicht zu überleben. Auch ein milder Verlauf von Corona wäre dementsprechend eine Katastrophe für mich.
Deswegen passe ich auf. Ich beschränke mich auf die nötigsten Besuche außerhalb, bin geimpft und trage Masken. Das ist für mich selbstverständlich. Ich bin gewohnt, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen. Nur habe ich wunderbare Assistent*Innen, die Tag und Nacht an meiner Seite sind. Mein Leben basiert darauf, dass ich mit Menschen in intimster Körperlichkeit zusammenlebe. Ich kann und will nicht darauf verzichten. Aber jedes Mal, wenn jemand meine Wohnung betritt oder ich im Aufzug nach unten in den Park fahre, kann es mich erwischen: Dieses Virus, das für jemanden wie mich eben kein Schnupfen ist.
Dazu kommt, dass die Situation in den Krankenhäusern schwierig ist. Wenn zu viele Menschen dorthin müssen, hat jemand wie ich sehr, sehr schlechte Karten. Einfach deswegen, weil meine Überlebenschance natürlich verhältnismäßig schlecht ist und sich so im Falle einer Triage gegen mich entschieden würde. Mein Leben ist in diesem Fall nicht so schützenswert wie das einer jungen und gesunden Person.
Dieser Gedanke ist, wenn man sich auf ihn einlässt, ein grausamer. Zum einen zeigt er eine harte Realität. Ich bin in den meisten Situationen tatsächlich körperlich einem gesunden Menschen unterlegen. Aber es hat auch eine andere Komponente. Jemand würde sich bewusst, wenn auch gezwungenermaßen dazu entscheiden, mich sterben zu lassen. Jemand hätte es in der Hand, zu entscheiden, ob mein Leben, meine Existenz es wert sind, gerettet zu werden. Letztendlich, ob ich es wert bin.
Man mag das übermäßig dramatisch finden. Vielleicht ist es das auch. Aber vielleicht hilft es euch einmal die Frage zu stellen, wie viel ihr in den Augen eines anderen Menschen wert seid. Nicht eines Menschen, den ihr kennt, sondern eines Menschen, der unter Stress steht. Der gerade die zweite Schicht schiebt, weil die Kolleg*Innen wegen eines Virus krank sind. Der nicht viel Zeit hat. Der euren Körper sieht und vielleicht, wenn ihr Glück habt ein paar Worte mit euch wechseln konnte. Wärt ihr es wert? Wärt ihr es mehr wert, als jemand anderes?
Wie sähe es aus, wenn dieser Mensch euch nicht einmal gesehen hätte. Wenn es nur eine Akte gäbe, weil die Kapazität nicht da ist, sich mit etwas anderem als Fakten auseinanderzusetzen. Würde dieser jemand sich für euer Leben entscheiden?
Ich kenne solche Situationen. Nicht in dieser Intensität. Nicht, wenn mein Leben auf dem Spiel steht. Aber dass Menschen, die mich und mein Leben nicht kennen, gar nicht kennen dürfen, Dinge entscheiden, die für mich unfassbar wichtig sind, kenne ich. – Und ich kann euch verraten, dass diese Entscheidungen meistens negativ ausfallen. Sachbearbeiter*Innen, die finden, dass Baden kein Grundrecht ist und mir deswegen nicht zustehen sollte. Welche, die vorschlagen, ich solle doch einfach Windeln tragen, um nicht auf die Toilette zu müssen.
Bei all diesen Dingen ging es nie um mein Leben. Sicher, solche Entscheidungen wären mehr als unangenehm gewesen, aber sie hätten mich nicht ausgelöscht. Ich konnte protestieren, konnte sie rückgängig machen. Wenn ich ersticke, kann das niemand rückgängig machen.
Dieser Gedanke hängt, seit die Krankenhäuser zum ersten Mal wegen Covid überlastet waren, in meinem Kopf herum. Die Frage „Bin ich es wert?“, begleitet mich seitdem. Sie begleitet mich, wenn ich glücklich auf dem Balkon sitze und wenn sich in der Stadt Jugendliche darüber amüsieren, wie verkrüppelt mein Körper aussieht.
„Was bin ich eigentlich wert?“ Ich suche die Antwort darauf und ich finde sie nicht. Ich glaube, nein, ich hoffe, dass ich es wert bin, zu existieren. Aber dann kommen sie. Die Aussagen im öffentlichen Diskurs. Die, die sagen, dass diejenigen, die wegen Corona sterben, sowieso sterben würden. Diese Stimmen, die dezent und fürsorglich darauf hinweisen, dass es für manche ja eine Erlösung wäre. Vielleicht wäre das ja sogar ein Weg aus dem Leid. Es wäre ja besser so – eigentlich für alle. Wenn man so an einem Leben hängt, das gar keines mehr ist, belastet man ja auch das Gesundheitssystem.
Wisst ihr, wie weh das tut? Wie sehr mein Herz brennt, wenn ich so etwas höre oder lese? Wenn es sogar von Menschen kommt, die mich kennen. Die einfach nicht auf dem Schirm haben, dass ich zu denen gehöre, die sie da augenscheinlich „erlösen“. Die es nicht sehen, weil sie seit zweieinhalb Jahren hören, die Risikogruppen, also diese Leute, die so gebrechlich sind, dass ein Virus ihnen etwas anhaben kann, wären ja ohnehin geschützt. Die vergessen, dass Vulnerabilität gegenüber einer Sache nicht bedeutet, dass man nur darauf wartet, dass es endlich vorbei ist.
Ich liebe mein Leben. Ich liebe es so sehr, dass es sich manchmal anfühlt, als müsste ich platzen. Ich liebe diesen dummen, defekten Körper. Liebe es, wie erschütternd Glück sein kann und wie tief sich Schmerz bis in mein Innerstes graben kann. Ich habe gekämpft, um da zu sein, wo ich bin. Und es waren nicht weniger Kämpfe als bei den meisten anderen. Da gibt es Menschen, die ich liebe, und welche, die mich lieben. Ich bin es gottverdammt wert, auf dieser Welt zu sein. Bin es wert, die Freude und das Leid bis ins Mark zu spüren.
Das alles will ich schreien. Bis ich keine Stimme mehr habe. Bis es auch noch die letzte Person gehört hat. Ich will, dass sich niemand hinter falscher oder falschverstandener Wohltätigkeit und Erlösung verstecken kann.
Aber wisst ihr, was ich stattdessen tue? Ich bin still. Bleibe zu Hause und vergrabe mich in Büchern, Pflanzen und Handarbeit. Weil Jahre des „Na ja, so schlimm ist das doch nicht. Wir haben endlich wieder Freiheit verdient und die, die es jetzt noch trifft, die vegetieren ja eh nur vor sich hin.“ Spuren hinterlassen. Weil ganz viel meiner Kraft im Augenblick dafür draufgeht, nicht zu glauben, dass ich es nicht wert bin. Dass diejenigen, die sagen, meine Eltern hätten mir und der Gesellschaft einen Gefallen getan, wenn sie mich nach meiner Geburt hätten „verrecken“ lassen, nicht recht haben.
Meine Freiheit schränke ich im Augenblick stark ein. So stark, dass ich manchmal das Gefühl habe, nicht mehr atmen zu können. Ich übernehme Verantwortung für mein Leben. Mein Überleben. Und nein, ich will nicht, dass irgendjemand auf seine oder ihre Freiheit verzichtet. Ich würde selber viel dafür geben, sie wieder zu haben.
Aber ich wünsche mir, dass ich nicht vergessen bin. Wünsche mir, dass Menschen, wenn sie über „die, die ohnehin sterben würden“, sprechen, an unsere Gesichter denken.
An meine und die von so vielen, die ihr Leben genießen. An alte und junge Gesichter. An schöne und besondere Gesichter. An all die Geschichten, die in diesen Gesichtern liegen. An die Kämpfe, die von ihnen ausgetragen wurden. Daran, dass da draußen viele sind. Viele, die kämpfen. Viele, die Morgensonne genießen oder einen warmen Tee. Viele, die geweint und geschrien haben. Die lachen. Die sich streiten und die manchmal Essen anbrennen. Menschen, die lieben und geliebt werden.
Daran, was fehlen würde, wenn sie – wenn wir fehlen.
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